Superintendent Uwe Simon (Oberes Havelland): Predigt über Lukas 6, 27-38   10. November 2019/ Kirche  Oberwambach „30 Jahre friedliche  Revolution“

Am 1.Oktober 1989 war in der Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens „Aktuelle Kamera“ angesichts der Ausreise vieler Botschaftsflüchtlinge aus Prag zu hören und Sprache ist ja verräterisch:

Zügellos wird von Politikern und Medien der BRD eine stabsmäßig vorbereitete ‘Heim-ins-Reich‘-Psychose geführt, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben. Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat…. Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen“

 

Am 9. Oktober zogen 70.000 Menschen nach den Friedensgebeten unter anderen in der Nikolaikirche über den Innenring Leipzigs. Die Staatsmacht war präsent um mit aller Gewalt eingreifen zu können. Unzählige Sicherheitskräfte, schwer bewaffnet, schlugen die mächtige Montagsdemonstration nicht gewaltsam nieder, wie von vielen befürchtet. „Die Angst hatte die Seiten gewechselt“ so Bundespräsident Frank Walter Steinmeier dreißig Jahre später. „Keine Gewalt“ war zu hören. Zwei Tage zuvor, bei Demonstrationen am Rande der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR waren noch über 200 Personen verhaftet worden. In der Nikolaikirche fanden sich unzählige abgeordnete Parteimitglieder und Stasimitarbeiter um den „staatsfeindlichen Elementen“ nicht das Feld zu überlassen. Sie hörten von den sog. staatsfeindlichen Elementen keine Hassreden, sondern Worte Jesu wie „Liebet eure Feinde“ und den Waffen wurden auf den Straßen Kerzen entgegengehalten. Sprache ist eben verräterisch: von den Vätern und Müttern der Wende und der friedlichen Revolution war nicht zu hören „wir werden sie vor uns herjagen“ oder „wir holen uns unser Land zurück“. Da wurde auch niemand in Anatolien entsorgt, selbst wenn die Forderung laut wurde, „Stasi in die Produktion“, also Das macht den Unterscheid aus zu den selbsternannten Vollendern der Wende dreißig Jahre später.

 

Am 4. November 1989 trafen sich 500.000 Menschen am Berliner Alexanderplatz. Christa Wolf, Meisterin der Sprache, stellte fest:

Soviel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit so viel Zorn und Trauer und mit so viel Hoffnung· Wir wollen jeden Tag nutzen, wir schlafen nicht oder wenig, wir befreunden uns mit neuen Menschen, und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen.“ (Unterstreichung der Prediger)

Die Angst der Staatsmacht war allerdings immer noch groß.  Der Befehl Erich Mielkes wenige Tage vor der geplanten und angemeldeten Demonstration lautete:

Zur Verhinderung von Angriffen auf die Staatsgrenze sind personelle und technische Blockierungsmaßnahmen (Einsatz von Sperrmitteln) vorzubereiten.“

Aber nicht einmal eine Woche später verkündete Günther Schabowski am Rande einer der täglichen Pressekonferenzen jener Tage:

Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt …

Frage: „Mit Pass?“ und „Wann tritt das in Kraft?“

Schabowski: (blättert in den Papieren) Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich… (blättert weiter in den Unterlagen)

 Diese wenigen Tage predigen wunderbar, was Jesus meint!

Wir erinnern die Bilder dieser Nacht, vor dreißig Jahren. Ich erinnere mich an das Klopfen der Mauerspechte in den nächsten Tagen und Wochen, an die Eröffnung immer neuer Grenzübergänge. Heute erinnert ein Mauerpark in Berlin an den Verlauf der Mauer, aber fast nichts mehr an dieses für so viele todbringende Bauwerk. Mindestens 327 Menschenleben hat das Grenzregime gekostet.

Die vielleicht wichtigste Errungenschaft dieser friedlichen Revolution war das Einreißen der Mauern mitten in Europa, das Einreißen der Mauern in den Köpfen, das Einreißen der Mauern durch  das mutige Auftreten der Menschen, in denen die Herrschenden meinten, Feinde sehen zu müssen, die aber nur die Verhältnisse ändern wollten und deshalb Freiheit für die Wahrheit, im Denken, im Reden und im Reisen herbeisehnten.

Und das ist der entscheidende Unterschied zu selbsternannten Vollendern der Wende: Mauern in den Köpfen, in den Herzen und in den Landschaften wurden eingerissen und nicht Aussengrenzen gesichert. Das plante nur die Staatssicherheit.

Alle, die in Ost und West meinten, Jesu Worte seien Träumereien, Phantasien, die der Wirklichkeit nicht standhalten und für Realpolitik nichts taugen, wurden für einen Augenblick eines Besseren belehrt. Eine Welt ohne Kalten Krieg und ohne Grenzen, eine Welt der Offenheit und Freiheit war zum Greifen nah. Es gab keine Gewalt, es gab keine Vergeltung, es gab keine Toten, es gab gesellschaftliche Veränderungen und Aufbruchsstimmung, sehnsüchtig und entschlossen!

Die Menschen, und dabei jeder Einzelne, machten ihre Hoffnungen durch ihre Präsenz, zu Gebeten ohne einsame Worte, dafür im Dialog. Es hätte ohne die Friedensgebete keine friedliche Revolution gegeben. Es brauchte die offenen Kirchen, die Freiräume des Denkens und der Rede an diesen Orten des Glaubens, die eben nicht verschlossen und exklusiv, sondern weit einladend und offen waren. Es war eine Offenheit, die nicht erst jeden Hoffenden, Suchenden, Demonstrierenden prüfte, in Rechtgläubige oder Ungläubige einteilte, sondern allen, die in Not waren, Raum und Schutz gab. Kirchenleitende waren zum Teil misstrauisch und voller Sorgen um die mühsam erreichten Freiräume der Kirchen.

Es gab und gibt in diesen Friedensgebeten eine Kraft, den Menschen, der betet oder der ins Gebet genommen wird und Gesellschaften zu verändern. Es ist die Kraft des Außerordentlichen, des Unerwarteten und Ungeheuerlichen, die Kraft der gewendeten Maßstäbe, einer in Liebe verkehrten Welt, in der nicht Hass, Vergeltung, Rache und Gewalt das Handeln bestimmen, sondern Liebe, Segen, Gewaltverzicht und die Bereitschaft Hoffnungen und Träume zu teilen. Es ist die Kraft Gottes. Eine Kraft, die nach außen drängt vom Wort zur Tat, die nicht in verschlossenen Kirchenmauern bleibt, sondern Straßen erfüllt. Es ist eine fließende Kraft, ein Band zwischen Himmel und Erde, eine Gegenwartskraft, die Grenzen überwinden und Menschen verbinden will, eine gesellschaftsverändernde Kraft.

 

Womit wir bei der Zeit nach der Wende und unserer Zeit wären, der Zeit der Einheit, auf die ich dankbar und demütig, bußfertig und barmherzig zurückschaue.

Sie hat mein Leben und unser aller Leben nachhaltig verändert. Es gab keine Blaupause für das Zusammenwachsen, nur die Hoffnung, dass zusammenkommt, was zusammengehört.

Es brauchte die Bereitschaft, Brücken zu bauen, mit der Vergangenheit ehrlich umzugehen, Menschen nicht nur auf ihre Vergangenheit zu reduzieren, sondern sie für die Gegenwart und Zukunft zu gewinnen, aber mit ihrer Vergangenheit und nicht durch verschweigen derselben. Zukunft gibt es nur miteinander und nicht gegeneinander. Aber der ehrliche Dialog der Geschichten reichte oft nicht oder ging nicht weit genug. Im Rückblick hätte vielleicht eine Wahrheitskommission wie in Südafrika gutgetan. Aber es ist nie zu spät. Dabei darf die Verantwortung der Täter nicht nivelliert und das Leiden der Opfer nicht vergessen werden. Viele Opfer der SED-Diktatur müssen bis heute mit den spürbaren sozialen und materiellen Folgen leben. Sie haben keine Wiedergutmachung erfahren. Es fehlt oft der Raum, erst einmal unkommentiert Lebensgeschichten in Ost (und West) anzuhören und stehen zu lassen, sie der nachgekommenen Generation verständlich zu machen. Lebenserfahrungen müssen so geteilt werden, dass sie ernst genommen sind, weil sie schlichtweg das Leben mit Höhen und Tiefen, mit Lieben und Leiden auch unter den Vorzeichen der Diktatur waren. Es waren in den letzten dreißig Jahren nicht nur Erfahrungen des Aufbruches, sondern ebenso radikaler Umbrüche und Abbrüche mit schmerzhaften Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Sie zu leugnen, spielt Populisten in die Hände. Sie zu verallgemeinern, verkehrt aber ebenso die große Bereitschaft und Hoffnung, miteinander eine freie Gesellschaft zu gestalten, in der Einheit mehr ist als Gleichheit, sondern Vielfalt einschließt. Wir wollen aus der Vergangenheit lernen und mitten in Europa eine gute Zukunft gestalten. Die Zukunft, der Auftrag der Kirchen in europäischer Perspektive, in der Nachfolge Jesu, unser Friedenszeugnis und unsere Friedensverantwortung sind leider viel zu selten im Blick und wir zu sehr mit uns beschäftigt und führen Stellvertreterdiskussionen. Wir meinen überlegen die Lebensgeschichten anderer, in Ost und in West, deuten zu müssen, statt Räume für das Erzählen der eigenen Geschichten zu eröffnen. Anders als durch Erzählen wird es nicht gelingen.

Jesus mahnt eine Haltung an, in der es kein oben und unten, keine moralische Überlegenheit, keine Gnade der frühen oder späten Geburt, keine guten oder schlechten, keine hiergeborenen oder erst eingebürgerten Landsleute gibt. Er benutzt große Worte wie Liebe, Segen, Barmherzigkeit, Gewaltverzicht, Vergebung und zeichnet selbst den Feind als einen schützenswerten und liebenswerten Menschen. Er kritisiert Haltungen, aber ruft zum Schutz des Menschen und seiner Person auf. Und davon wünsche ich mir mehr für den gegenwärtigen gesellschaftlichen Streit: Klarheit und Wahrheit in den Haltungen für Freiheit und Menschenwürde, ohne Kompromisse und Abstriche, auch klare Abgrenzungen, wenn Menschen verächtlich gemacht und abgewertet werden, aber dabei Respekt und Einsatz für die Unversehrtheit der Personen. Auch das ist das Erbe er friedlichen Revolution 1989.

Unsere Partnerschaften haben geholfen in der Zeit der Trennung ein enges Netz und eine tiefe Verbundenheit über Familiengeschichten hinaus zu bewahren. Ich kann mir nicht vorstellen, wie der Einigungsprozess hätte gelingen können ohne die unzähligen kirchlichen Partnerschaften zwischen Ost und West und den vielen persönlichen Kontakten und Freundschaften und den vielen Begegnungen der Gemeinden. Sie haben die Mauer immer ein Stück offen und die Hoffnung auf ein Ende der Teilung Deutschlands in einem in Frieden geeinten Europa lebendig gehalten. Damit können wir heute noch, durch die Begegnungen Räume für das Erzählen unserer Erfahrungen, Ängste, Verluste und Hoffnungen zu schaffen, um so einander besser zu verstehen und ernst zu nehmen. Vielfalt der Lebensgeschichten ist ein unglaublicher Reichtum, den wir wie einen Mantel und wie unseren Glauben teilen dürfen. Es ist ein HERR, ein Glaube, eine Taufe. Das bleibt und trägt uns. Und für dieses Geschenk können wir unendlich dankbar sein.

Was bleibt nun von den Erfahrungen der Wende, der Friedensgebete, des Mauerfalls? Hoffentlich die Bereitschaft im Geist der Liebe, der sprachlichen, gedanklichen und körperlichen Gewaltfreiheit, der Wahrheit und Freiheit verpflichtet, im Geist der Vergebungsbereitschaft, Gräben zwischen Menschen in nah und fern zu überwinden und nicht zuzulassen, dass Mauern wiederaufgerichtet werden. Einheit braucht Vielfalt. Einheit ist nicht Gleichförmigkeit. Sprache ist dabei verräterisch. Das hilft uns in der Gegenwart die Geister zu scheiden. Ich glaube, das ist ein angemessenes Partnerschaftsprojekt für die Gegenwart und: unsere Sprache verrät, ob wir dem Geist Jesu glauben und ihm folgen. Er helfe uns dazu!