Predigt zu 60 Jahre Diakonisches Werk Altenkirchen 12.09.2019 –  Lukas 4,18 f

Superintendentin Andrea Aufderheide/ Christuskirche Altenkirchen

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Liebe Festgemeinde,

im vierten Kapitel des Lukasevangeliums stehen zwei spannende Verse, die mir in besonderer Weise geeignet erscheinen, über die Rolle der Diakonie nachzudenken, die 60 Jahre unseren Ev. Kirchenkreis Altenkirchen geprägt hat.

Die Verse stammen übrigens aus der Antrittspredigt, die Jesus einmal in Nazareth gehalten hat.

Sie müssen sich die kleine Synagoge in Nazareth vorstellen. Sie wird an einem Sabbat gut gefüllt gewesen sein, denn ein Einwohner dieses Ortes, Jesus, der Zimmermanns-Sohn, wird sprechen. Man hat schon von ihm gehört:  „die Kunde von ihm erscholl durch das ganze umliegende Land, und er lehrte in ihren Synagogen und wurde von jedermann gepriesen.“

(Lk 4,14f) heißt es im Vorfeld.

Und jetzt tritt Jesus „zuhause“ in Erscheinung, nimmt sich Raum in dem kleinen Lehrhaus vor Menschen, die ihn von klein auf kennen. Man gibt ihm eine Schriftrolle des Propheten Jesaja, einen alten Verheißungstext, und was er in der kleinen Synagoge des Ortes vorliest, das lautet wie folgt (Lk 4,18f):

„Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat.

Er hat mich gesandt, um den Armen die frohe Botschaft zu verkündigen,

um den Gefangenen die Freilassung

und den Blinden das Wieder-Sehen anzukündigen,

um die Zerschlagenen in die Freiheit zu entlassen,

um anzukündigen ein Erlassjahr des Herrn.“

Die sich nun anschließende Auslegung Jesu zu diesem Prophetenwort besteht nur aus einem Satz:

„Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“

In Theologenkreisen mutmaßt man gelegentlich, dass dies eine der kürzesten Predigten ist, die je gehalten wurde.

Aber das wirklich Spektakuläre, das hier geschieht, ist Folgendes:

Jesus stellt sich als Gesalbter spontan in die messianische Tradition Israels und sagt den Zuhörern in dieser Autorität und Vollmacht klipp und klar an, wer der erste Adressat seines Evangeliums ist:

Nämlich die Armen!

Und Jesus „outet“ ebenso knapp und unmissverständlich sein Kernprogramm:

Die Befreiung der in Schuldknechtschaft geratenen Gefangenen,

die Heilung der Behinderten und Gehandicapten,

die Rückführung dieser Randgruppen in die soziale Gemeinschaft,

und die Erlösung der Hoffnungslosen aus ihrer Depression.

Aber Jesus geht noch weiter:

Er kündigt für die Hochverschuldeten ein Erlassjahr an,

also eine flächendeckende Entschuldung

und die Rückerstattung des verpfändeten Grundbesitzes an die verarmten Kleinbauern in der Provinz Judäa.

Und – was ziemlich „krass“ ist:

Das alles wird nicht vertagt auf einen „Sankt Nimmerleinstag“! –

Das Revolutionäre an Jesu Botschaft ist:

Alle diese radikalen Neuerungen gelten ab sofort; hier und jetzt!

Jesus macht gleich bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in Nazareth ernst mit den grundlegenden

Sozialverpflichtungen der Thora.

Er entfaltet die konkrete Utopie eines gerechten Gottesreiches

und sagt eine „neue Zeit“ zugunsten derjenigen an, die ganz unten stehen.

Und Jesus tut das in dem (Selbst-) Bewusstsein, dass die Perspektive der Ohnmächtigen die Perspektive Gottes ist!

Gott ist parteiisch. Er ist solidarisch mit denen, die „ganz unten“ sind.

 

Wen wundert es, dass Lukas 4, Vers 18 und die folgenden Verse zu den Kerntexten der „Theologie der Befreiung“ zählen?

Hier geht es um die Abschaffung genau der Zustände, die Elend überhaupt erst verursachen!

In einem Satz zusammengefasst geht es darum, dass Schluss mit der Not des Volkes gemacht wird.

 

Warum habe ich genau diesen ungewöhnlichen Text für meine Festpredigt heute gewählt?

Weil die Begründung allen diakonischen Handels letztendlich immer eine „Theologie der Armen“ ist.

Im diakonischen Handeln vollzieht unsere Kirche, – die in Europa immer in der Gefahr stand, Kirche des Bildungsbürgertums zu werden, – in ihren Diakonischen Werken vollzieht die Kirche immer wieder einen Perspektivwechsel: stellt sich auf die Seite der Menschen, die in unserer Gesellschaft marginalisiert werden.

Aus der Perspektive der Mühseligen und Beladenen entwerfen nur wenige Lehrerinnen und Lehrer der Kirche ihre Theologie.

Dietrich Bonhoeffer, (der in den 50-er Jahren noch als „Vaterlandsverräter“ verfemte Theologe der Bekennenden Kirche) ist da eine Ausnahme!.

Bonhoeffer schreibt 1943 aus seiner Zelle in Berlin- Tegel (in „Widerstand und Ergebung“):

„Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden, sehen gelernt haben (… ) Könnt ihr nicht eine Stunde neben mir wachen? fragt Jesus in Gethsemane. Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet (…) Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben(…)“[1]

Genau dieser theologische Weg, von der Bergpredigt zu Dietrich Bonhoeffers Kreuzestheologie führt weiter zu einer Kirche, für die diakonisches Handeln zum „Kerngeschäft“ gehört: zur gelebten Relevanz christlicher Identität.

Verkündigung und Diakonie, Predigt und Handeln gehören genauso zusammen wie das Wort vom Kreuz und die Christusnachfolge.

Ich möchte Ihnen das einmal an unserem Predigttext deutlich machen:

„Er hat mich gesandt, um den Armen die frohe Botschaft zu verkündigen, um den Gefangenen die Freilassung und den Blinden das Wieder-Sehen anzukündigen,

um die Zerschlagenen in die Freiheit zu entlassen, um anzukündigen ein Erlassjahr des Herrn.“

 

Die Verarmten, die hier der lukanische Jesus in den Blick nimmt, das sind x-Tausende versehrte Tagelöhner, die im Palästina der Spätantike von der Hand in den Mund lebten, zum „sozialen Bodensatz“ gehörten und als ganze Familien betteln mussten.

Als ob es diese Situation heute nicht gäbe!? Wem erzähle ich das hier und heute?

Im Diakonischen Werk, auch bei uns hier in Altenkirchen, kümmert sich die allgemeine soziale Beratung um Menschen in akuten oder strukturell bedingten Notlagen.

Das sind heute Klientinnen und Klienten im Niedriglohnsektor. Das sind „Altersarme“ – meist Frauen, die hier auf dem Land ihr Leben lang „schwarz“ gearbeitet haben, z.B. Putzstellen hatten, aber nicht „geklebt“ haben.

Das sind Alleinerziehende und Menschen ohne Schulabschlüsse, schwervermittelbare Arbeitslose, Frührentner und vor allem Kinder.

Nach einer Untersuchung der Bertelmann-Stiftung 2017 sind 21 % aller Kinder, also jedes fünfte Kind, längerfristig von Armut betroffen: also von der Teilhabe an einer gesicherten Existenz über mindestens fünf Lebensjahre hinweg ausgeschlossen.

Hier geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander, gerade auch im ländlichen Raum, denn hier bei uns setzt Teilhabe immer auch Mobilität voraus.

Wer von der Hand in den Mund lebt, wird uns bei den Tafeln in Altenkirchen, Betzdorf und Wissen sichtbar. Und der „freie Fall“ aus dem Mittelstand in die Armut vollzieht sich immer häufiger.

„Er hat mich gesandt, um den Armen die frohe Botschaft zu verkündigen, um den Gefangenen die Freilassung anzukündigen.

Wenn hier im Predigttext von „Gefangenen“ die Rede ist, dann ist damit keine delinquente Szene gemeint. Keine Gewalttäter sind im Blick, sondern Menschen, die die römischen Besatzer als politische Aufrührer oder Widerständler in Haft genommen hatten.

Oftmals waren sie aus anderen römischen Provinzen geflohen und lebten als Nichtsesshafte, als politische Flüchtlinge „vogelfrei“, ohne einen Rechtsstatus, in den Städten oder im Gebirge.

Man geht heute davon aus, dass zurzeit Jesu diese Heimatlosen bis zu 10% der Bevölkerung ausmachten.

Heute findet sich diese Gruppe ebenso wieder: Flüchtlinge, politisch Verfolgte, Staatenlose aus dem armen Süden, allesamt Irrläufer, die Zuflucht suchen in unseren, den reichen europäischen Staaten und Industrienationen. Oft sind es unbegleitete jugendliche Flüchtlinge.

Und genau diese Menschen sind das Klientel, um das sich der Fachdienst für Flüchtlinge und Migranten in unserem Diakonischen Werk kümmert.

Er hat mich gesandt, um den Blinden das Wieder-Sehen anzukündigen, um die Zerschlagenen in die Freiheit zu entlassen.

Auch hier geht es nicht um die im wörtlichen Sinne Erblindeten und um Opfer von körperlicher Gewalt. Das „Wieder-Sehen-Können“ meint eine neue Perspektive für die Hoffnungslosen.

Und die Freiheit für „Zerschlagene“ beinhaltet die Verheißung, dass Menschen aus persönlichen oder familiären Zwangslagen herausfinden,

dass sie erkennen, was sie in ihren Lebensbeziehungen knechtet und niederhält und was sie davon „frei“ werden lässt.

Genau das ist heute Ziel unserer Ev. Beratungsstelle, die Erziehungsberatung, Paarberatung und Einzelberatung unterschiedlicher Altersgruppen durchführt:

täglich ganze Familien in prekären Situationen vor Augen hat.

Und natürlich lässt sich hier auch die Arbeit des Betreuungsvereins wahrnehmen, der Menschen annimmt, die so hilflos sind, dass sie für sich selbst keine Entscheidungen mehr treffen können.

Er hat mich gesandt, um anzukündigen ein Erlassjahr des Herrn.

In diesem Vers geht es um die Verschuldung großer Bevölkerungsgruppen zur Zeit Jesu. Durch die Verknappung und Verteuerung von Saatgut und durch die Ausbeutung und Besteuerung zugunsten der römischen Besatzungsmacht hatten viele judäische Kleinbauern so geringe Erträge, dass sie sich allmählich immer höher verschulden mussten, ihr Land verpfändeten und schließlich sogar ihre Kinder in die Schuldknechtschaft verkauften.

Leider gab es damals keine Schuldnerberatung, so wie heute im Diakonischen Werk, hier bei uns vor Ort.

Aber es wird uns klar, dass Armut immer auch damit zusammenhängt, dass Menschen plötzlich sozial abrutschen: Durch Scheidung, Erkrankung und anschließende Arbeitslosigkeit, oder aufgrund eines schwerwiegenden Suchtproblems geraten Menschen in die Schuldenfalle, sind angewiesen auf Entschuldung und einen Neustart unter fairen Voraussetzungen.

um den Armen die frohe Botschaft zu verkündigen, hat er mich gesandt, um Gefangenen die Freilassung und Blinden das Wieder-Sehen anzukündigen

[bin ich geschickt], um die Zerschlagenen in Freiheit zu entlassen, um anzukündigen ein Erlassjahr des Herrn

Wer Christusnachfolge als Weg wahrnimmt, der Teilhabe eröffnet, der erlebt Stärke in der Schwäche, Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit, und Leben – letztendlich auch der Sterblichkeit zum Trotz.

Wer denen etwas zutraut, die andere aufgegeben haben,  wird Auferstehung gerade dort erfahren, wo niemand sie erwartet:

Mitten im Leben!

Dietrich Bonhoeffer drückt das so aus:

„Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade so und nur so ist er bei uns und hilft uns.“[2]

 

Auch wenn ein Mensch sich in ohnmächtigen Situationen befindet, kann das Leben schon durch die Zuwendung und das Zuhören und Mitdenken einen Freiraum gewinnen, der langsam zu einer neuen Perspektive wird.

Im Mehrgenerationenhaus – wie auch in allen anderen Bereichen unseres Diakonischen Werkes – begegnen Menschen dieser Achtsamkeit und erfahren Ermutigung für ihr Leben.

Genau das geschieht seit 60 Jahren vor allem in unzähligen Vier-Augen-Gesprächen zwischen Ihnen als Beraterinnen und Berater und Ihren Klientinnen und Klienten im Diakonischen Werk.

Heute ist das natürlich nicht die „Gemeindeschwester“ vor Ort, die sich kümmert, sondern es sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unterschiedlichen Standorten in allen geschilderten Handlungsfeldern des Diakonischen Werks, die helfen. Aber es vollzieht sich immer noch im Wesentlichen „face to face“ mit den Betroffenen.

In allen diesen Begegnungen keimt die Hoffnung, dass das Leben und die Liebe stärker sind als Ungerechtigkeit und gelegentlich auch ein böses Schicksal.

Wenn Gott als menschenfreundlicher Gott existiert, dann kommt er in die Armseligkeit und Gebrechlichkeit,

dann kommt er mitten in die Realität unserer Sterblichkeit hinein, begegnet uns in den Niederungen unserer Angst und Not.

Er holt uns unter seine schützenden Schwingen, spendet uns Schatten und Zuflucht in der größten Anfechtung.

Wenn Menschen leiden, schwach werden und im Elend stehen, dann spiegelt sich in ihrer Gestalt, in ihrem Antlitz tatsächlich der Gekreuzigte.

Das Antlitz des Gekreuzigten spiegelt sich wider in allen, die um ihre Existenz kämpfen müssen.

Das Angesicht Jesu leuchtet aber ebenso auf in allen Menschen, die lieben und helfen, die sich in kleinen und großen Werken für Mitmenschlichkeit, Teilhabe und Gerechtigkeit engagieren.

Das bedeutet: Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen Sparten unseres Diakonischen Werkes gehen seit sechs Jahrzehnten einen „Christusweg“, folgen dem Herrn unserer Kirche in großen und kleinen Schritten, wenn sie ihre Arbeit an Menschen tun, die mühselig und beladen sind.

 

Wir trauen uns gegen allen Anschein zu glauben und zu hoffen, dass Gott auf diesen Wegen mit uns geht, weil er ein naher, ein solidarischer Gott ist und dafür einsteht, dass seine Liebe keinen „Fall ins Nichts“ oder ins gesellschaftliche Abseits zulassen will.

Jesu Auferstehung ist ein geniales Gleichnis für diesen Aufstand Gottes, für seinen Protest nicht nur gegen den Tod, sondern gegen alle Ungerechtigkeit und Zerstörung von Lebensmöglichkeiten in unserem Alltag.

Vergangenheit und Zukunft der diakonischen Arbeit liegen nicht allein in unseren Händen, sondern in Gottes guter Hand.

Deshalb gehen wir als Ev. Kirchenkreis Altenkirchen mit unserem Diakonischen Werk voller Zuversicht auch in die kommenden Jahrzehnte;

erwarten weiterhin Bewahrung und Gottesnähe in allen Problemlagen, die sich ergeben mögen, denn die Aufgabe bleibt für uns alle klar:

Gott, der Herr, hat seinen Sohn gesandt, zu verkündigen die frohe Botschaft den Armen.

Auf dass denen, die mit leeren Händen dastehen, Hoffnung und Mut angesagt wird,

und die Gefangenen in die Freiheit finden und die Zerschlagenen wieder unversehrt werden wie Kinder,

und in der Gnadenzeit des Herrn leben auf ewig.“

Amen.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

 

[1] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S. 193.

[2] Dietrich Bonhoeffer Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. Von Eberhard Bethge, S. 131.