Karfreitag

Der christliche Feiertag Karfreitag berührt mit seiner Botschaft uns als Christenheit bis ins Mark. Die aktuelle Weltlage, die Schreckensbildern eines brutalen Kriegs in Europa vor Augen, das Wissen um die geschundene Welt und die zunehmenden Ängste und Sorgen vieler Menschen, lässt den diesjährigen Karfreitag und die frohmachende Botschaft des Osterfestes zu einer besonderen Herausforderung werden. Pfarrer Martin Autschbach (Schulreferent der Evangelischen Kirchenkreise Altenkirchen und Wied) nimmt uns in einem Gastbeitrag mit in seine Gedanken zur „Passion 2022“.

Liebe Leserinnen und Leser,

die Karwoche macht die Passion, die Leidensgeschichte Jesu als eine Abwärtsspirale in immer tiefere Gefilde sinnfällig. Ein Albtraum nimmt Station für Station reale Gestalt an: Dem Abschiedsmahl mit den Jüngern folgen der Verrat aus dem engsten Freundeskreis und die Gefangennahme Jesu im Garten Gethsemane. Die Flucht der nahen Anhänger (nur mutige Frauen bleiben zuletzt in seiner Nähe), das Verhör vor dem Hohen Rat schließen sich an. Jesus wird als notorischer Gotteslästerer bezichtigt. Pontius Pilatus, rücksichtsloser Statthalter und korrupter Repräsentant der römischen Besatzungsmacht, verschärft das beantragte Todesurteil: Jesus Nazarenus wird als Rex Iudeorum, als König der Juden (INRI) mit dem Kreuzestod bestraft, einer Hinrichtungsart, die politischen Aufrührern vorbehalten ist. Zuvor führt man Jesus mit einer Dornenkrone öffentlich vor, gibt ihn dem Gespött der Menge und den Folterknechten preis. Der Gekreuzigte stirbt auf Golgatha laut schreiend:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

An diesem Karfreitag 2022 begegnen uns viele dieser Kreuzesstationen auf schrecklichste Weise wieder: in den Bildern der von russischen Soldaten brutal ermordeten Männer, Frauen und Kinder. Was Passion bedeutet, spiegelt sich im Leiden der Ukrainerinnen und Ukrainer, die in Butscha, in Irpin und Makariv auf der Straße, in Hinterhöfen und unter den Trümmern ihrer Häuser gefunden werden: gefesselt, mit Foltermalen, nach Verhören durch Putins Schergen hinterrücks erschossen.

Ereignet sich hier vor unseren Augen erneut und fortlaufend die Gottverlassenheit, die der Gekreuzigte herausschreit? Umfängt uns mitten in Europa in diesen Ostertagen die Finsternis einer Gottesferne, die wie ein schwarzes Loch alles Licht verschluckt?

Widerständige Theologen wie Dietrich Bonhoeffer und Jochen Klepper, die selbst in der Hölle eines entmenschlichten Gewaltstaates leben und sterben mussten, erkennen in den Gesichtern der ohnmächtigen Opfer die Züge des Gekreuzigten. Wo soll Gott sonst sein, wenn nicht in der Ohnmacht der Verletzten, im Angesicht der Gequälten und zu Tode Erschöpften in der Ukraine, im Antlitz der Millionen Flüchtlinge?

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Dieser tiefste Zweifel, dieses Gefühl absoluter Gottesferne ist am Kreuz mit Gott selbst verbunden, wird von Jesus selbst ausgesprochen. Die Erfahrung völliger Gottverlassenheit – sie begegnet wie ein Sog ins Nichts mitten in der Agonie Jesu, wird laut im Augenblick seines gewaltsam erlittenen Todes. Am tiefsten Punkt der Passionsgeschichte ist Gott selbst mit dem Tod verbunden. Gottesnähe in der absoluten Gottesferne? Lässt sich inmitten größter Angst ein so hilfloser, ohnmächtiger Gott aushalten? Der Karfreitag mutet uns diese Grenzerfahrung zu: innigste Verbundenheit mit Gott in gemeinsam durchwachter Finsternis und Depression. Dietrich Bonhoeffer findet genau für diese Golgatha-Situation die folgenden Worte:

Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“

Ich will noch einmal zurück zu dem Kreuzeswort Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Hier stimmt Jesus einen alten Psalm an, den Psalm 22.

Diese Klage gibt die Erfahrung tiefster Gottverlassenheit angesichts von schwerem Leid und erlittener Verfolgung wieder: „Du (mein Gott) bist so ferne meinem Schreien, den Worten meines Flehens!“.

Wenn man diesen Psalm liest, dann wird deutlich, wie nahe sich die Leidenserfahrung des Psalmbeters und die Passion Jesu berühren: „Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf“ (Ps 22,8); „Sie haben meine Hände und Füße durchgraben … sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“ (Ps 22,17 und 19). Der Psalm 22 erscheint uns wie eine geheimnisvolle Liturgie der von Jesus durchlittenen Kreuzesstationen. Überaus spannend ist aber Folgendes: Der Klagepsalm wechselt vor seinem Ende unvermittelt in ein Gotteslob, dem offensichtlich die Erfahrung einer Gebetserhörung und Bewahrung zugrunde liegt: „denn er hat nicht verachtet noch verschmäht „das Elend des Armen“ (22,25). Und so mündet das Psalmlied in der folgenden Verheißung: „Dem Herrn allein werden alle die Ehre geben, die in der Erde schlafen; vor ihm werden die Knie beugen alle, die zum Staube hinabfuhren und ihr Leben nicht erhalten konnten. Er wird Nachkommen haben, die ihm dienen; vom Herrn wird man verkündigen Kind und Kindeskind. Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit ausbreiten vor dem Volk, das [noch]geboren wird. Denn er hat’s getan.“ (Ps 22,30-32). Die ersten Christen haben diese Wende von der Klage zum Lob als Vorschein des Ostermorgens in der Dunkelheit des Karfreitags gelesen.

So können auch wir am Karfreitag 2022 die Verheißung am Ende des Psalms 22 für uns wahrnehmen, eine Hoffnung, in die hinein sich auch der Gekreuzigte geborgen hat:

Es sind nicht die Gewaltherrscher dieser Welt, es sind nicht die Putins und Lukaschenkos, die letztendlich den Lauf der Dinge bestimmen werden. Was sie zu zerstören suchen, wird aus den Ruinen neu erstehen. Alle ihre Opfer bleiben unvergessen und bewirken eine Solidarität der Lebenden, die unbeirrt den Weg der Gerechtigkeit geht. Und mag es auch Generationen dauern!

Pfarrer Martin Autschbach – 04/22

Kreuzesdarstellungen: Friedhelm Zöllner – Ausstellung „Kreuze als Symbol der Passion“/Kirche Birnbach/April 2022